Fachbericht

Ungleichbehandlung zwischen Selbständigerwerbenden und Arbeitnehmenden

Das Schweizer Vorsorgesystem, auch bekannt als 3-Säulen-Prinzip, wird von drei Säulen getragen: Die staatliche Vorsorge (1. Säule), die berufliche Vorsorge (2. Säule) und die private Vorsorge (3. Säule) bilden zusammen das solide Tragwerk für eine umfangreiche Absicherung im Alter.

Im Schweizer Sozialversicherungssystem sind Selbständigerwerbende nicht gleich umfassend versichert via Arbeitnehmende.
Für Selbständigerwerbende ist nur die 1. Säule (AHV, IV, EO) obligatorisch. Bei der Arbeitslosenkasse besteht für Selbständigerwerbende keine Versicherungspflicht und sie können auch nicht freiwillig beitreten. Sie sind nicht für einen Stellenverlust oder eine Erwerbseinbusse versichert. Als Selbständigerwerbender ist man nicht obligatorisch der beruflichen Vorsorge unterstellt. Eine freiwillige Versicherung bei der beruflichen Vorsorge für die Risiken Alter, Invalidität und Tod kann abgeschlossen werden. Bei Nichtvorhandensein einer beruflichen Vorsorge können keine Leistungen seitens Pensionskasse entrichtet werden. Die fehlende berufliche Vorsorge beeinträchtigt nicht nur die betroffene Person, sondern auch die Familie, denn im Falle eines Ereignisses würden keine zusätzlichen Geldleistungen entrichtet werden. Die finanzielle Unterstützung würde geringer ausfallen. Die betroffene Person würde dann Leistungen aus der 1. Säule wie zum Beispiel eine AHV-Rente oder Invalidenrente erhalten, aber keine ergänzenden Leistungen aus der 2. Säule. Die Unfallversicherung ist ebenfalls nicht obligatorisch, aber freiwillig abschliessbar. Sofern keine Unfallversicherung besteht, laufen die Heilbehandlungskosten über die Krankenkasse.
Bei den Arbeitnehmern besteht über den Arbeitgeber eine obligatorische Versicherungspflicht, sofern Sie eine gewisse Lohngrenze oder eine bestimme wöchentliche Arbeitszeit, erreichen. Arbeitnehmende sind dann in allen Sozialversicherungszweigen (AHV, IV, EO, ALV, UVG, BVG) versichert.

 

Studien zeigten, dass nur etwa die Hälfte der Selbständigerwerbenden nach der Pensionierung Leistungen aus der 2. und 3. Säule (Pensionskasse und Säule 3a + 3b) beziehen. Bei den Unselbständigerwerbenden liegt der Prozentsatz viel höher (über 75%).
Selbständigerwerbende, welche nur Leistungen aus der 1. Säule (AHV oder IV) beziehen, sind im Alter häufiger von Armut betroffen. Sie sind vermehrt auf staatliche Hilfe in Form von Ergänzungsleistungen und eventuell ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen. Fast doppelt so viele Selbständigerwerbende wie ehemalige Arbeitnehmer beziehen nach der Pensionierung Ergänzungsleistungen. Es ist nachgewissen, dass sich Selbständigerwerbende oft geringere Einkommen ausbezahlen, was wiederum zu geringeren Sozialversicherungsabgaben führt und somit fallen auch die Leistungsauszahlungen der Versicherungen geringer aus. Die AHV-Rente berechnet sich unter anderem auf dem abgerechneten jährlichen Einkommen. Wenn nun geringere Einkommen versichert werden, fällt die AHV-Rente im Alter auch tiefer aus.

 

In den letzten Jahren war bei den Ausgleichskassen ein Anstieg der Selbständigerwerbenden Personen zu beobachten. Prognostisch geht man davon aus, dass sich die Zahl der Selbständigerwerbenden Personen weiterhin stetig erhöhen wird. Gerade deshalb wäre eine Anpassung der schweizerischen Sozialversicherungssysteme für eine Gleichbehandlung oder Angleichung der Selbständigerwerbenden mit den Arbeitnehmern dringend notwendig. Ansonsten könnte sich in Zukunft die Anzahl der Ergänzungsleistungsbezüger und Sozialhilfebezüger drastisch erhöhen. Beide Leistungen werden von Steuergeldern finanziert. Optimaler wäre es somit, wenn die Selbständigerwerbenden auch obligatorisch in der 2. Säule versichert wären und nach der Pensionierung Leistungen aus dieser Säule beziehen könnten. Die Leistungen würden die Selbständigerwerbenden selbst mit Beiträgen finanzieren.
Somit könnte eine finanzielle Entlastung der Ergänzungsleistung und Sozialhilfe stattfinden.

 

Dass Selbständigerwerbende weder in der beruflichen Vorsorge noch in der Arbeitslosen- und Unfallversicherung obligatorisch versichert sind, kann aus wirtschaftlicher Sicht auch ein Vorteil sein: Sie können ihr Unternehmen auf- und ausbauen, ohne in der Anfangsphase ihrer
Tätigkeit mit hohen Sozialversicherungsabgaben belastet zu werden. Somit haben Sie mehr Kapital zu Verfügung. Sollten die Selbständigerwerbenden sich im Verlauf der Selbständigkeit nicht gegen die Risiken absichern mit dem freiwilligen Versicherungsbeitritt oder Zusatzversicherungen so würde sich dies nachteilig auswirken, wenn ein Versicherungsfall eintritt und keine Deckung oder Absicherung bestehen würde.
Nachteilig ist, dass die Selbständigerwerbenden alle Sozialversicherungsbeiträge aus der eigenen Kasse entrichten und der Beitragssatz wird nicht wie bei den Arbeitnehmern zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgeteilt.

 

Die Massnahmen des Bundes zur Bewältigung der Covid-Krise zeigten ebenfalls auf, dass bei den Arbeitnehmenden die Leistungsvoraussetzungen bei der Arbeitslosenversicherung angepasst werden konnte. Es konnte auf ein vorhandenes Versicherungssystem zurückgegriffen werden und dies konnte ausgebaut werden. Bei den Selbständigerwerbenden konnte auf keine bestehende Absicherung gegen Erwerbsausfall zurückgegriffen werden und es musste innert kürzester Zeit eine Unterstützungsmöglichkeit für Selbständigerwerbende geschaffen werden.

 

Für die Selbständigerwerbenden gibt es keine Anlaufstelle, welche Sie umfassend über ihre Versicherungsdeckungen in allen Sozialversicherungsbereichen informiert und aufzeigt, wie allfällige Versicherungslücken gedeckt werden könnten oder ergänzt werden könnten mit Zusatzversicherungen.
Verschiedene Lösungsansätze, um die Risiken der Selbständigerwerbenden abzusichern oder die Versicherungsleistungen anzugleichen werden seit längerer Zeit rege diskutiert.

 

Eine Möglichkeit wäre auch, dass bei Personen, die sich erst später nach einem Arbeitnehmerverhältnis Selbständig machen, wäre der Erhalt der Austrittsleistung in der beruflichen Vorsorge eine Möglichkeit, dass zuvor im Angestelltenverhältnis erworbene Deckungsniveau zu halten. Diese Variante könnte ausgearbeitet werden und hätte dann Vor- und Nachteile und würde die Wirtschaftsfreiheit ein wenig einschränken.
Im September 2022 überwies der Nationalrat das Postulat Roduit gegen den Antrag des Bundesrates. Damit muss der Bundesrat dem Parlament einen Bericht zur besseren sozialen Absicherung der Selbständigerwerbende ausarbeiten und vorlegen.

 

Mögliche Verbesserungsansätze werden zurzeit erneut in der Politik ausdiskutiert. Jedoch wurde das schweizerische Vorsorgesystem bis zum heutigen Zeitpunkt noch nicht für die Selbständigerwerbenden angepasst.

 

Autorin: Fabienne Maag

Ungleiche Vorsorge in der Selbständigkeit
Ungleiche Vorsorge in der Selbständigkeit

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